Unterstützung für pflegende Angehörige
Wenn Bernd Görtler an seinem Schreibtisch sitzt, kann jederzeit das Telefon klingeln und seine Schwester ist am Apparat. Dann muss Görtler weg: Sein Vater ist vor kurzem aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen. Jetzt ist er auf Pflege angewiesen. „Mein Vater wird von meiner Schwester und von mir gepflegt. Außerdem kommt jemand stundenweise ins Haus und hilft, zum Beispiel beim Anziehen.“ Anträge stellen, für den Vater da sein, Hilfen besorgen: In der neuen Situation ist für die Kinder viel zu organisieren.
Görtler steht mit einer Mitarbeiterin an der Kontrollstation eines Förderbandes. In der Verpackungsabteilung der Dr. R. Pfleger GmbH surrt es leise. Die Blisterpäckchen mit Tabletten des Bamberger Arzneimittelherstellers fahren auf dem Band durch die Glaswand aus der Produktion zur Verpackung. Hier werden sie zu Bündeln zusammengefasst und in Pappschachteln gesteckt. Görtler organisiert die Arbeitsvorbereitung für die Konfektionierung. Für jeden neuen Auftrag plant er das Personal, den terminlichen Ablauf, die Bänderbelegung. Wenn er, wie jetzt, zwischendurch mal weg muss, bedeute das „sehr intensive Absprachen mit den Kollegen“, wie er sagt.
Erstberatung zum Thema Pflege ist gesichert
Der 55-Jährige ist froh, dass es bei seinem Arbeitgeber, einem Pharma-Unternehmen mit rund 330 Beschäftigten, Zeitkonten gibt. „Wir haben eine 37,5-Stunden-Woche, ihre Arbeitszeit können sich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aber nach Absprache flexibel einteilen. Über die Zeiterfassung wird die tatsächliche Arbeitszeit in den Zeitkonten erfasst, die bis zu 130 Stunden über- oder unterschritten werden und bis zum Jahresstichtag wieder ausgeglichen werden können“, erklärt Personalleiter Sascha Dorsch. Abwesenheiten zwischendurch sind so für Görtler leicht möglich. Und nicht nur das: Als klar war, dass sein 86-jähriger Vater nach dem Krankenhausaufenthalt zu Hause auf Hilfe angewiesen sein würde, hat er sich an einen Aushang am Schwarzen Brett seines Arbeitgebers erinnert. „Da hatte ich gelesen, dass es Beratung für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit pflegebedürftigen Angehörigen gibt.“ Er wusste auch noch, dass Dorsch vor ein paar Jahren selbst einen Pflegefall in der Familie hatte. Zusammen mit seiner Kollegin Anja Müller, die in derselben Situation war, hat er im Unternehmen ein Konzept zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf angestoßen: die „Pfleger-Pflege“.
Zur Familienfreundlichkeit eines Arbeitgebers gehört auch, dass er seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen beim Thema Pflege unterstützt. So kümmern wir uns nicht nur um die Menschen, sondern verhindern Ausfallzeiten, stärken die Mitarbeiterbindung und können uns als interessanter Arbeitgeber hervortun.
Sascha DorschPersonalleiterGörtler hat sich Dorsch anvertraut. „Ich erinnere mich noch, dass ich damals zwei Wochen lang vergeblich versucht habe, überhaupt jemanden ans Telefon zu bekommen, der oder die uns in der neuen Situation mit einem Pflegefall in der Familie beraten kann“, sagt Personalleiter Dorsch. Ihm und Anja Müller war deshalb eine kostenlose telefonische Beratung als Teil des Pflegekonzepts besonders wichtig. Immer montagnachmittags können die Pfleger-Mitarbeitenden nun sicher sein, dass Norbert Scholz von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Bamberg telefonisch für sie da ist.
Wie schaffen Berufstätige die Pflege, ohne selbst krank zu werden?
"Ich hätte nicht gewusst, was ich machen soll", sagt Bernd Görtler. In seiner Familie war es wie in vielen anderen: Von einem Tag auf den anderen wird ein Elternteil zum Pflegefall. Für die meisten berufstätigen Kinder heißt es dann, Informationen sammeln, Anträge stellen, Umbaumaßnahmen anleiern - und vor allem Entscheidungen treffen, schwierige Entscheidungen: Was ist das Beste für die Eltern? Meist viel später kommt die Frage: Wie schaffe ich es, für die Eltern und im Beruf da zu sein, ohne selbst krank zu werden?
Görtler hat die ersten Entscheidungen mit Hilfe des AWO-Beraters Scholz getroffen. "Herr Scholz ist zu uns nach Hause gekommen und hat mit uns, unserem Vater und unserer Mutter zusammen ein Gespräch geführt. Er hat uns vor allem Tipps gegeben, welche Hilfen wir von der Krankenkasse bekommen können." So belastend die Situation ist: Görtler ist froh über die Starthilfe durch die AWO und die flexible Zeiteinteilung auf der Arbeit. Das Thema Pflege ist in der Kantine kein Tabuthema mehr: "Die Kolleginnen und Kollegen an meinem Tisch fragen nach. Man spricht darüber." Das war nicht immer so. "Bevor wir mit unserem Konzept gestartet sind, haben wir eine Umfrage gemacht: 40 Prozent der Mitarbeitenden gaben an, aktuell oder in naher Zukunft einen Pflegefall in der Familie zu haben", sagt Anja Müller. Diese hohe Zahl hatte sie und Dorsch damals überrascht und bestärkt. Eine Dame habe nach der Schicht sogar drei Pflegefälle betreut - auf der Arbeit wusste niemand davon.
Auch den Jüngeren ist das Pflegekonzept bekannt
In der Qualitätskontrolle hantieren ein paar Frauen und Männer in weißen Kitteln mit Erlenmeyerkolben und Pipetten. Lisa Höhn ist eine von ihnen. „Ich mache gerade eine Reinigungsvalidierung. Das heißt, ich stelle sicher, dass keine Reinigerrückstände in dem Kessel waren, in dem das Medikament hergestellt wurde.“ Mit ihren 21 Jahren hat sich die Chemielaborantin noch keine großen Gedanken über das Thema Pflege gemacht, wie sie sagt. Aber das Pflegekonzept ihres Arbeitgebers ist ihr bekannt. „Ich weiß, dass es ab und zu Themenvorträge gibt, zum Beispiel zu Alzheimer. Und ich habe auch gehört, dass man sich Unterstützung holen kann.“
Für Müller und Dorsch ist schon viel erreicht, wenn die Mitarbeitenden das Hilfsangebot im Hinterkopf haben. „Die Familie eines Mitarbeiters zum Beispiel wollte keine Hilfe von außen. Als der nicht mehr konnte, kam er auf mich zu, weil er von unserem Unterstützungsangebot wusste“, sagt Dorsch. Auch wenn ihn pro Jahr nur fünf oder sechs Mitarbeitende ansprechen: „Ein Mitarbeiter, der vor Erschöpfung ausfällt, kostet einfach. Da ist es schon viel wert, wenn nur drei im Jahr Hilfe in Anspruch nehmen.“
Interview mit Anja Müller, Referentin für Personalmarketing, und Sascha Dorsch, Personalleiter
Wie ist Ihr Konzept zur Vereinbarung von Pflege und Beruf entstanden?
Müller: Unser Unternehmen beschäftigt sich schon immer mit dem Thema Familienfreundlichkeit. Zum Beispiel bieten wir eine Kinderferienbetreuung an. Aber Familie heißt auf der anderen Seite immer öfter auch, Angehörige zu pflegen - gerade jetzt im demographischen Wandel, wenn die Eltern tendenziell älter werden. Bei diesem Thema möchten wir unsere Mitarbeitenden genauso unterstützen.
Haben Sie denn Schwierigkeiten, Personal zu finden?
Müller: Auszubildende zu finden ist für uns zum Beispiel sehr einfach, weil wir in der Region bekannt und als Abeitgeber auch beliebt sind. Schwierig wird es aber bei den Außendienstmitarbeitern und -mitarbeiterinnen oder auch bei den Spezialisten und Spezialistinnen aus dem medizinisch-wissenschaftlichen Bereich, wo wir bestimmte Anforderungen an den Studienabschluss haben.
Was umfasst Ihr Angebot an die Mitarbeitenden im Einzelnen?
Dorsch: Zentral ist die kostenlose Erstberatung durch die AWO. Es gibt einen festen Termin pro Woche, an dem Herr Scholz für die Mitarbeitenden da ist. Die Mitarbeitenden besprechen ihr Anliegen vertraulich direkt mit ihm. Außerdem laden wir ungefähr zwei Mal im Jahr Expertinnen und Experten zu Vorträgen ein - zuletzt ging es zum Beispiel um das Thema Vorsorgevollmacht. Über unsere zinslosen Kredite können Betroffene Umbaumaßnahmen finanzieren, etwa die Türverbreiterung für Rollstuhl oder Rollator. Und bei uns im Personalbüro können Betroffene sich ein Erste-Hilfe-Paket abholen: Hier haben wir alle Informationen zu Beratungsstellen und Pflegeangeboten in der Region zusammengefasst.
Und wieviel kostet Sie das?
Dorsch: Der AWO zahlen wir für die Beratungsdienstleistung 400 Euro im Monat. Bei den Vorträgen können es je nach Referent 500 Euro oder auch einfach nur ein paar Euro als Spende sein. Dazu kommen noch die Kosten für Flyer und Plakate, mit denen wir unser Pflege-Konzept im Unternehmen bekannt gemacht haben.
Was empfehlen Sie anderen Unternehmen: Lohnt es sich, Hilfe bei der Pflege anzubieten?
Dorsch: Ich würde mich freuen, wenn andere kleine und mittlere Unternehmen sich bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf stärker engagieren würden. Wir versuchen schon lange, zu dem Thema ein Netzwerk mit anderen Mittelständlern der Region aufzubauen. Wir haben durch die Pfleger-Pflege klare Vorteile: Wir beugen Ausfallzeiten vor, binden die Mitarbeiter noch enger ans Unternehmen und können auch bei Bewerbungsgesprächen mit dieser Unterstützung punkten. Wichtig bei der Einführung eines Pflege-Konzepts ist es, vorher mit den Mitarbeitenden zu sprechen: Was sind die Themen, wobei genau brauchen sie Hilfe? Dann sollten die Entscheidenden in der Geschäftsführung mit ins Boot geholt werden, um zu signalisieren, dass es wirklich auch von der obersten Ebene gewollt ist, sich Hilfe beim Thema Pflege zu holen.